Das innere Auge
Das innere Auge sieht, wonach das äußere sich sehnt.
Das innere Auge sieht, wonach das äußere sich sehnt.
Ich liege auf Beton, der eine Bank sein soll und blicke nach oben. Wie ein stumpfes Messer schneidet die Silhouette den Horizont in graue Schichten.
Die meterhohe Glasfassade doppelt die Welt verdunkelnd und jede menschliche Regung wirkt wie ein Fleck auf den perfekten Flächen, die mein steinernes Bett umfassen wie die Mauern einer Psychatrie.
Es spiegelt sich die Eitelkeit ohne Horizont, fließend gehen Beton und Glas einander über, werden übergriffig, zeigen in Fenster und Fassade auch oder zuerst das Äußere, das Drumherum – und leer und seelenlos bleibt die Hülle ohne Kern und das Glas ohne Sprung, ohne Riss, ohne Alter, Falten und Verformung.
Zwischen Spree und Hauptbahnhof kann man das Papier schmecken, auf dem diese Bauten einst gezeichnet wurden. Man fühlt den Augen der Stadtplaner nach, die auf Displays starrten und die Überstunden im Blick hatten, ja, man kann diesen kultivierten Blick sogar in den Fassaden sehen, er erschließt sich metaphorisch in den spiegelnden Glasflächen wie auch dahinter.
Zwischen den Flächen flirrt das Licht, es fliehen die Farben fort und entsättigen sich von Fassade zu Fassade, um in Transparenzen Kontur zu finden. Berliner Kristall ist zerbrochen.
Weine nicht, kleiner Mann
Deine Tränen fließen nicht
Vergießen sich
einen Winter lang
Dein Gesicht so verängstigt weiß und schuldig bang
Vermisst Du Dich im Trüben
Siehst dich hinter der Scheibe noch
Dein kindliches Lachen üben
Doch Dein Auge matt vor Lügen
Lässt Dich keinen Schein mehr trügen
Belügen und betrügen
Ist die Reife das?
Dich selbst belügen und betrügen
Ist die Schönheit einer Träne
Vollkommen wie die Sehnsucht
nach der Einen, der Liebe?
Du ziehst den Regen an
Das Fenster offen stehend
Die Dunkelheit in ihren Bann
Die weinenden Augen sehend
Dich selbst im zerspringenden Glas
Eben noch im Bett
Stehst jetzt auf dem Brett allein
Der Drang nach oben – hoch hinaus
Er ist vorbei. Es ist aus.
Ein See aus Silber,
Es rauscht der Wind,
Der Herbst malt seine Bilder
und es weint ein Kind.
Die Eltern… wer sie waren?
Und wo sie heute sind?
Keiner wird es mehr erfahren
Und in der Stille weint das Kind.
Den bunten Drachen in der Hand
Einsam sich die Freiheit nimmt
steht im Nachthemd versunken im Sand
frierend – das weinende Kind.
Der Drachen will sich weiter heben
Regen über die Wange rinnt
Das Kind reißt er aus dem Leben
Und fliegt hinauf geschwind.
Die Ästhetik der Schüchternheit ist die zärtliche Seite der Opulenz.
Der Asphalt schimmert heute brünett unter dem späten grün im frühen Herbst. Flügel schlagen vergessenen Staub durch das Laub, als sich das Licht vom Westen her durch die bewegten Blätter bricht. Eine weiße Feder verflüchtigt sich im Gegenlicht der Sonne, wo ein älteres Ehepaar zwei Geldstücke in den Brunnen wirft und lächelt.
Ein Junge klettert auf der Seite hervor und übt sich an der Wasseroberfläche im Betrachten der eigenen Möglichkeiten: Groß werden die dunkelbraunen Augen, als sie sich erstmalig im Wasser wiederfinden, schüchtern wieder, als sie nicht ablassen können von ihm und seinen Gesten, dann greift er sich ans Hemd, guckt verlegen zur Seite, zieht eine Grimasse und geht lachend davon.
Über dem Bassin erhebt sich ein Turm aus Muschelkalk. Ihm inne wohnt ein altes, steinernes Gesicht. Es sieht nichts, es hört nichts, es gibt keine Verständigung zwischen den starren Augen und jenen, die sie betrachten. Es ist sich selbst so fremd und fern wie kein anderes Gesicht an diesem Tag. Doch dann:
Da sind die Augen eines Mannes, der bisher lehnend am Brunnen auf das Wasser starren musste, als wäre er selbst aus Stein – denn erst jetzt löst er sich aus seiner Arretierung. Er hat eine lederne Jacke aufgetragen, eine ehemals rote Schirmmütze und eine dicke Jeans mit weiten Beinen. Er schaut zur Seite: Jetzt, wo das Kind weg ist, kann er weitermachen.
Aus seiner Tasche führt er zwischen einer eingedrückten Packung Zigaretten und einem Feuerzeug einen kleinen, silbrigen Knopf hervor. Das lange schwarze Band, dessen Ende er sich um das Handgelenk legt, fährt er mit den Fingern ab wie der Geselle sein Gesellenstück. Dann senkt er wieder seinen Kopf und blickt in den Brunnen. Der Blick bleibt unerwidert. Auch das steinerne Gesicht gegenüber verzieht keine Mine. Dann beginnt die Jagd.
Er nimmt Maß, spannt den Senkel zwischen seinen Fingern über die Kante des Brunnens und als er dann zwei Münzen gleichzeitig aus dem Wasser zieht, belebt es sein Wesen so intensiv, dass ich es selbst aus der Entfernung spüren kann. Heute kommen die großen Geldstücke zuerst, er findet einen Euro, dann noch einen, dann eine 50 Cent Münze, vielleicht auch eine andere Währung – doch sein Blick bleibt der des Jägers, nicht des Sammlers. Er braucht das Geld, nicht das Gefühl.
Im Wasser bleiben: Eine weiße Blüte, eine Sonnenbrille mit der Aufschrift »Gin-Tonic«, einige weiße Federn, etwas welke Pracht und ein Euro und vierundfünfzig Cent.
So zieht er fort. Ein blondes Mädchen fragt ihre Mutter, ob sie ein paar Cent in den Brunnen werfen dürfe: »Das soll Glück bringen!«, sagt die Kleine aufgeregt, als ihre Hände schon die Wasseroberfläche berühren.
»Was ist schon Glück?!« sagt die Mutter, fast schweigend, versteinert.
Eine Wolke schleicht sich vom Himmel fort, flaniert über den Asphalt, trägt den Schirm für Regen auf, an der Bude steht ein Mann – sehr alt. Das Parfum der Dame neben ihm erinnert an den verzauberten Bonbonladen und den großen Augen dann, an das Fenster, dass das süße Lächeln spiegelt und die kleinen Hände an der blanken Scheibe dran.
Alt mag sie sein, doch erwachsen ist sie nicht: Denn wenn sie heute durch die Scheiben auf das süße Treiben blickt, hat sie dasselbe Gesicht.
Auch im Schönen wohnt die Hässlichkeit im Keller.
Die Frage der heutigen Zeit ist nicht, ob man seine Meinung sagen darf. Das stand nie zur Debatte!
Es geht um widerliche Hetze. Es geht um die Frage, ob es uns genehm ist, ohne Verantwortung und ohne Rücksicht auf unsere Mitmenschen – zu deren Wohl wir uns verpflichtet fühlen sollten – Halbwissen und Hass auf den digitalen Asphalt rotzen zu dürfen.
Die Frage der heutigen Zeit ist: Darf ich mich der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung entziehen? Und die Antwort, welche unter jedem Kommentar zu stehen hat, muss lauten: Nein! Nein! Und nochmals: Nein!
Man muss wohl zu der Erkenntnis kommen, dass Dresden bei Regen schöner ist, als Rom bei Sonnenschein.